Vermessungsformeln


Die Entwicklung der Vermessungsformeln in England zwischen 1875 und 1906

Ein spannendes Kapitel in Englands Yachtgeschichte

Zugegeben, man muss schon ein Faible für Mathematik haben, wenn allein der Anblick mathematischer Formeln die Augen zum Leuchten bringen soll. Aber es sind nicht nur die Zahlen  an sich, die diese 30 Jahre in  Englands Yachtgeschichte so interessant machen. 

Viel spannender ist, was die Konstrukteure daraus machten, wie sie die Vermessungsformeln bis zum letzten ausreizten und dadurch die Yachtvereinigung (YRA) regelmäßig zwangen, die Vermessungsformeln zu modifizieren, um unerwünschte Auswüchse wieder einzudämmen. 

Was folgte, war eine ständige Änderung der Vermessungsvorschriften, bedingt durch experimentierfreudige  Konstrukteure und Eigner, die bereit waren, die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse auszutesten und dabei bis an die Grenzen des Materials gingen. Maximum Speed war das Credo. Viel ging seinerzeit zu Bruch, da immer größere Segelflächen die Holzmasten beanspruchten und die Eigner auch nicht gerade zimperlich damit umgingen. Erst die Einführung von Wantendraht und Spannschlössern und der Einsatz von Salings ließen Mast und Baum vielleicht eine Saison überstehen. 

Auch die Rümpfe, die immer leichter konstruiert wurden, aber dafür große Bleilasten tragen mussten, hielten nur noch einen Sommer. Kein Wunder also, dass die RYA regelmäßig darauf drängte, die Regattaschiffe wieder sicherer zu  machen.

Und am Ende war man wieder dort, wo man 1875 angefangen hatte...

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Übersicht  (aus Dixon Kemp)

Die Tonnage Rule


Bis in die fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts galt noch die Tonnage Rule, nach der in England Schiffe vermessen und gebaut wurden. Mit ihr wurde in früheren Zeiten ermittelt, wie viele Tonnen Kohle ein Schiff  bei voller Beladung transportieren konnte. Mit dem Ergebnis in Tonnen wurde das Schiff registriert.  Die Bruttoregistertonne war geboren. Diese Vermessungsregel wurde mangels  Alternativen damals mit leichten Änderungen auch auf  Yachten angewandt, um diese zu klassifizieren und einigermaßen gerechtes Segeln gegeneinander zu ermöglichen.  Die Tonnage Rule basierte auf der Länge des Kiels (L), der Breite(B) der Yacht und des Tiefgangs (D).

Sie lautete u.a.:         LxBxDx0,5
                                        100

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Gleam, 30 Tonner von 1832,  Fife I

Viele Konstrukteure experimentierten mit dieser Vermessungsregel. Sie fanden heraus, dass Yachten der selben Tonnage  länger, schmaler und mit mehr Tiefgang  gebaut werden konnten. Dies hatte gleich mehrere Vorteile: Der tiefgehende Ballast dieser Schiffe sorgte für ein größeres aufrichtendes Moment. Daher  konnten diese Yachten  größere Segelflächen tragen. Die lange Wasserlinie und die schmalen Rümpfe ermöglichten höhere Rumpfgeschwindigkeiten. Die Verwendung von externem Ballast in Form von untergebolzten Bleikielen erlaubte noch größere Segelflächen. Später ging man dazu über, die Kiele zu verkürzen, also das Unterwasserschiff zu beschneiden und Yachten mit größeren Überhängen zu entwickeln. Das verringerte einerseits den Widerstand unter Wasser, während durch die Überhänge bei Lage eine längere Wasserlinie entstand. Auch dies sorgte für höhere Geschwindigkeiten.  

Die daraus entstandene Vielzahl der Rumpfformen und Yachtkonstruktionen machte gerechtes Segeln gegeneinander allerdings kaum noch möglich.
Ohne Zeitkorrekturen und Handicaps ging gar nichts mehr.
Daher wurde 1875  die RYA, die Royal Yachting Association gegründet, mit dem Ziel, Vermessungsformeln zu standardisieren und die verschiedenen Yachten für Regatten in Klassen einzuteilen. 
Zunächst übernahm die RYA das „Thames Measurement“ als Vermessungsformel, eine Weiterentwicklung der Tonnage Rule, wo der Tiefgang jetzt keine Rolle mehr spielte:

(L-B)x(Bx ½ B)
           94
wobei L = die Länge der Yacht auf Deck  und B = die größte Breite ist. 

Dadurch wollte man die Entwicklung von Yachten mit allzu großen Überhängen verhindern, förderte aber den Tiefgang der Yachten und bestrafte die Breite.
Ab 1879 wurde statt der Länge der Yacht auf Deck die Länge der Wasserlinie in  die Formel eingesetzt. Dies bevorzugte wiederum Schiffe mit ausgeprägten Überhängen.


 

Die 1730-Rule 


DIe nächste Überarbeitung folgte 1881:

(L+B)²xB
    1730                 
wobei L weiterhin für die Länge der Wasserlinie stand.

Diese „1730 Rule“, wie sie genannt wurde, bestrafte aber ebenfalls die Breite der Yacht und führte zu noch schmaleren, tieferen Rümpfen mit viel Bleiballast und enormen Segelflächen. Rümpfe nach dieser Vermessungsformel wurden „plank on edge design“ genannt, oder „Planke hochkant“ . 

Die Riggs hielten mit dieser Entwicklung nicht Schritt.  Aufgrund der schmalen Rümpfe konnten die Masten nicht mehr ausreichend verstagt werden und Mastbrüche waren inzwischen an der Tagesordnung. Viel ging zu Bruch und ebenso viele „Bleimienen“ oder „Bleisärge“ verschwanden zum Teil schon beim Stapellauf auf Nimmerwiedersehen in den Fluten.

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Halcyone von 1883, eine typische Vertreterin der 1730-Rule (Planke Hochkant, Dixon Kemp)

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Rater


1886 entwickelte die RYA eine neue Vermessungsregel, die auf der Länge der Wasserlinie (LWL) und der Segelfläche basierte, da nach Froude diese beiden Faktoren für die Geschwindigkeit einer Yacht verantwortlich sind: 

Rater = LWL x Segelfläche
                       6000

 Ein 40-Rater hatte z.B. eine Wasserlinienlänge von 60 Fuß und eine Segelfläche von 4000 Quadratfuß.  

Auch wenn man es ihr auf den ersten Blick nicht zutraut: Diese einfache und unscheinbare Berechnungsvorschrift führte zu einem Quantensprung in der Geschichte des britischen Yachtsports. Sie ermöglichte den experimentierfreudigen Designern die Umsetzung und Weiterentwicklung der Froud´schen Grundsätze, sodass innerhalb kürzester Zeit hochmoderne Konstruktionen entstanden, die in Sachen Geschwindigkeit alles bisher da gewesene in den Schatten stellten. 

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Iota, 1889, ein 2.5Rater. Der Riß mit den tiefgehenden, schmalen, V-förmigen Spanten zeigt noch deutlich die Einflüsse der 1730-Rule. (Dixon Kemp)

Unter der  neuen Vermessungsformel, die Breite und Tiefgang unerwähnt ließ, entstanden Yachten, die folglich wenig Verdrängung und Unterwasserschiff hatten.  Diese  Entwürfe waren bei gleich langer Wasserlinie und gleicher Segelfläche  einer Yacht mit mehr Gewicht und fülligem Unterwasserschiff haushoch überlegen und das bei allen Wind- und Wetterbedingungen. Aus diesem Grund mutierten die schweren Kielyachten zu extremen, jollenartigen Leichtbaukonstruktionen mit denen auf einmal auch eine Gleitfahrt möglich war. Unterwasser befand sich nur noch das Ruder und ein Flossenkiel mit Bleibombe. Die Einrichtung? Spartanisch, oft nur zwei Sitzbänke. Wer bei dieser Beschreibung an eine moderne Rennziege aus den 21. Jahrhundert denken muss, liegt gar nicht so falsch. 
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Coquette, 1891, ein 0.5Rater von Nicholson. Das Unterwasserschiff ist inzwischen stark  reduziert, das Ruder freistehend. Nicholson zeichnete seine Entwürfe stets nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen.(Dixon Kemp)

Insbesondere weil die Rating Rule keine übergroßen Segelflächen erlaubte, waren die Schiffbauer gezwungen, so leicht zu bauen wie eben möglich bzw. wie das vorhandene Material es so gerade noch zuließ,  damit ihre Schiffe als erstes die Ziellinie überquerten.

Hätten die Konstrukteure damals bereits moderne Materialien und Kleber gehabt, sie hätten sie zweifelsohne eingesetzt.

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Helena, 2.5Rater  1895 (RNCYC)

So setzten die dünne Planken aus Zedernholz und die schmalen, mit Eisen verstärkten Spanten der Lebenserwartung eines Raters natürliche Grenzen. Meist hielten sie nur ein oder zwei Regattasaisons und wurden dann wieder abgewrackt, da sie als Fahrtenyacht ohnehin  nicht zu gebrauchen waren. Hinzu kam, dass regelmäßig nur die neuesten Rater die erfolgreichsten waren, sodass die Eigner per se jede Saison eine neue Rennmaschine  bestellten. Dies war auch weniger Betuchten möglich, denn die kleinen, leichten  Renner waren im Vergleich zu den voluminösen Kielyachten deutlich günstiger. Es kam zu einem Boom im Yachtbau, jedes Jahr bevölkerten mehr Segler die Regattabahnen. Im Laufe der Zeit setzen sich zudem neue Baumethoden durch, wie die Verwendung von Stahlspanten oder die Doppelbeplankung der Rümpfe. Hinzu kam die bessere Verstagung der Riggs durch  die Verwendung von Salings und Wantenspannern.

Die Haltbarkeit der Rater erhöhte sich, und da die neue Vermessungsregel so erfolgreich war, wurden selbst Fahrtenjachten mit leichten Veränderungen nach der Rating Rule gebaut. 

Yachten wie die „Britannia“ des Prinzen of Wales zeigten, dass die Rating Rule auch in der Big Class funktionierte. 

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Baby, ein 0.5Rater von 1894, eine weitere  Entwicklungsstufe. Ein moderner U-Spant Rumpf mit frei stehendem Ruder,  langen und  schmalen Überhängen. Die Bleibombe ist an einer Kielflosse aus Messing befestigt. Man sieht dem Baby förmlich an, dass sie es eilig hat. (Dixon Kemp)

Die RYA sah diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Da gab es diejenigen, die ihren Spaß am Regattasegeln hatten und nur ihre Runden um die Bojen drehen wollten (und das wurden von Jahr zu Jahr mehr!)  und diejenigen die den alten aristrokatischen Zeiten hinterher trauerten, wo der Segelsport nur den Begüterten vorbehalten war, Yachten noch Hochsee taugliche Schiffe mit Wohnzimmeratmosphäre und keine unbequemen Rennmaschinen waren und sie Regatten unter ihresgleichen austragen konnten. 

Bis sage und schreibe 1896 ließ die RYA diese  Entwicklungen zu, dann ging es ihr zu weit.

Die Rufe der Aristokratie und inzwischen auch der Konstrukteure nach Verbannung der hoch entwickelten  Rennziegen wurden letztendlich erhört. Eine neue Rating Rule musste her, da waren sich die Herren einig.

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Lily, 2.5Rater, 1897   (RNCYC)

Linear Rater                                                            

Linear Rater  =  L + B + 0,75G +  0,5√Segelfläche
                                                2

wobei L die Länge der Wasserlinie, B die größte Breite und G das Unterwassergurtmaß am Hauptspant der Yacht ist. 

Die Einführung des Gurtmaßes sollte für ein fülligeres Unterwasserschiff und  größere Verdrängung sorgen. Der Erfolg dieser Maßnahme war allerdings geringer, als es sich die Erfinder dieser Formal gedacht hatten, zumal jetzt größere Segelflächen erlaubt waren als nach der vorhergehenden Formel. Die Yachten hatten zwar mehr Verdrängung, aber immer noch wenig Einrichtung unter Deck und waren dementsprechend ungemütlich. Die größeren Segelflächen hingegen erwiesen sich als Vorteil. Nach Meinung der YRA konnte diese Formel trotzdem oder gerade deswegen so nicht bestehen bleiben.

So kam es, dass sich die YRA und die Konstrukteure wie Watson, Fife und Nicholson nur 4 Jahre später erneut zusammensetzten, um über eine Weiterentwicklung abzustimmen.

Seit 1901 gilt:        Linear Rater  =  L + B + 0,75G + 4d + 0,5√Segelfläche
                                                                                    2,1

Entscheidend ist hier die Einführung der Umfangdifferenz „d“  (die Differenz, die entsteht, wenn man am Hauptspant unter Wasser einmal mit der Schnur den Konturen folgt = Gurtmaß und davon das Maß abzieht, das entsteht, wenn man die Schnur am gleichen Spant von der Wasserlinie aus unter den Kiel hindurchführt bis zur Höhe der Wasserlinie auf der anderen Seite und dann stramm zieht.)

Da „d“ mit 4 multipliziert wird, waren die Designer nun gezwungen, eine Yacht mit fülligerem Hauptspant zu  konstruieren, mit der Konsequenz, dass wieder mehr Platz für die Inneneinrichtung zur Verfügung stand. Die YRA hatte ihr Ziel erreicht.

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Ein namenloses Design, 52ft Linear Rater von 1903. Der Rückschritt ist deutlich erkennbar, ebenso die Ähnlichkeit mit Entwürfen der ab 1907 geltenden Intern. Metre  Rule.  (Dixon Kemp)

Leider  war damit der Entwicklung  moderner Unterwasserschiffe ein abruptes Ende gesetzt. Die Leichtbaukonstruktionen der vorangegangenen Jahre  mit flachen Rümpfen und angehängten Kielen wichen wieder sog. „Gentlemen Yachts“, schwerer und langsamer als ihre Vorgänger, mit  mehr Komfort und teurer, was wiederum dem Geldbeutel der Konstrukteure und Yachtbauer zu Gute kam.

Diejenigen allerdings, die den  Segelsport im eigentlichen Sinne favorisierten,  waren angesichts der neuen Regel sehr betrübt. Mit der Abschaffung der Rennziegen wurde Ihnen schlicht der Spaß am Regattasegeln genommen. Selbst der Prinz of Wales als Präsident der YRA und Eigner der „Britannia“ war „not amused“ angesichts der neuen Vermessungsregel und  verkaufte seine erfolgreiche Yacht. 

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Pen Duick (ex „Yum“),  36ft Linear Rater, 1898     

Viele andere konnten sich die neuen Linear Rater nicht leisten, die annähernd doppelt so teuer waren als ein alter Rater. Die Anzahl der Teilnehmer an Regatten nahm folglich ab.  Kein Wunder also, dass die weniger Betuchten nach neuen Lösungen suchten und fanden. Im Laufe der Zeit  reifen sie viele lokale und nationale Einheitsklassen ins Leben, um ihre Sucht  nach  Geschwindigkeit zu einem akzeptablen Preis befriedigen zu können. 

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Magdalen, 1901,  52ft Linear Rater   (RNCYC)


Wer sich die Linear Rating Rule genau ansieht, erkennt, dass der Schritt zur internationalen Meterklasse (Metre Rule) nicht mehr weit ist. Diese wurde 1906  europaweit eingeführt und hat bis heute Anhänger auf der ganzen Welt. Sie führte zu noch gewichtigeren und teureren Schiffen, von der Verdrängung her ähnlich den Bleitransportern der alten Tonnage Rule.

Der Spaßfaktor, die Vermessungsformel der Rater von 1886, verschwand hingegen für immer in den Schubladen der Konstrukteure... 

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Mirza und Eileen, 42ft Linear Rater  (RNCYC)

© Gisela Scharbaum

 (Aus: Dixon Kemp´s Manual of Yacht and Boat Sailing, edited by Brooke Heckstall-Smith, Horace Cox 1904 und „Tuiga“ Yachting Heritage 2005, Limitierte Ausgabe, ISBN 0-9550777-0-2, Nr.3889)